»Die Ukraine und Deutschland im 20. Jahrhundert«
Die Veröffentlichung des Geschichtsportals der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission fällt in eine Zeit, die für den ukrainischen Nationalstaat eine existenzielle Bedrohung bedeutet. Der russische Angriffskrieg richtet sich gegen die demokratisch gewählte ukrainische Regierung, gegen die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine.
Heute ist erkennbar, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine auch einen Einschnitt in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Deutschland bedeutet. Der Geschlossenheit, zu der die westliche Staatengemeinschaft angesichts der russischen Bedrohung gefunden hat, ging in Deutschland bis in den Februar hinein eine Phase der Ambivalenz voraus. Auf der einen Seite stand das offizielle Bekenntnis der Bundesregierung zur Souveränität und Integrität der Ukraine, auf der anderen Seite wurde der geopolitische Charakter des deutsch-russischen Pipeline-Projekts Nord Stream 2 von führenden Politikern der Bundesregierung bis hin zu Bundeskanzler Olaf Scholz lange bestritten. Auf problematische Weise wurde von der Regierung Geschichte beansprucht, um Waffenlieferungen an die Ukraine zu vermeiden. Außenministerin Annalena Baerbock und andere verwiesen dabei auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, in dem allerdings die Ukraine relativ gesehen mehr Opfer zu beklagen hatte als Russland. Die Verweigerung von Waffenlieferungen und die offiziellen deutschen Begründungen für diese Entscheidung haben in der Ukraine das Deutschlandbild zumindest kurzfristig zum Negativen verändert. Ob sich dies angesichts der inzwischen revidierten Regierungshaltung und eines neuen deutschen Ukraine/Russland-Diskurses seit dem russischen Angriff wandeln wird, bleibt abzuwarten.
Das Geschichtsportal bietet in fünf thematischen Schwerpunkten Informationen und Interpretationen zur Geschichte der Ukraine und der deutsch-ukrainischen Geschichte. Dies erscheint auch deshalb ein wichtiges Informationsangebot, als der Krieg vom russischen Präsidenten Putin mit historischen Ausführungen „legitimiert“ wird. In diesem Portal geht es nicht speziell darum, die historische Argumentation Putins zu widerlegen. Das ist an anderer Stelle von Mitgliedern der Kommission [1] bzw. ihres Beirats [2] geschehen. Es geht vielmehr darum, ein breites Orientierungswissen anzubieten, das es erlaubt, die Geschichte der ukrainisch-deutschen Beziehungen im 20. Jahrhundert besser zu verstehen. Gerade angesichts der russischen Angriffs auf die Ukraine ist es notwendig, dass der deutsche Diskurs über die Ukraine sich stärker an Tatsachen orientiert und Uneindeutigkeit vermeidet. Ein Beispiel dafür ist die seit 2014 übliche Rede von einer „Ukrainekrise“, die nahelegt, dass es vor allem indigene Ursachen seien, die den Ereignissen der Abspaltung der Krim und des Kriegs in Luhansk und Donetsk geführt hätten. Tatsächlich ist der treibende Faktor in beiden Fällen russische Machtpolitik und nicht Sezessionsbestrebungen der Krimbevölkerung oder innere Verwerfungen in den östlichen Regionen der Ukraine. Genauso tatsachenwidrig ist die Rede von einem Referendum der Krim zugunsten des Eintritts in die Russische Föderation, das es als eine unbeeinflusste, völkerrechtskonforme Abstimmung nie gegeben hat. Diese Liste ließe sich fortführen.
Das Themenportal präsentiert Darstellungen in den folgenden thematischen Blöcken:
- der Erste Weltkrieg und die ukrainische Staatsgründung
- Deutschland und die Ukraine in den 1920er und 1930er Jahren
- der Zweite Weltkrieg
- der Kalte Krieg
- Deutschland und die unabhängige Ukraine
Die Perspektiven sind dabei von Epoche zu Epoche unterschiedlich: In manchen Perioden treten Deutschland und die Ukraine als Staaten gegenüber, so in der Zeit des Ersten Weltkriegs, als mit Unterstützung des Deutschen Reichs ein erster Versuch der Gründung eines ukrainischen Nationalstaats unternommen wurde, und in der Zeit nach 1991. Im Zweiten Weltkrieg hingegen ist die Ukraine für Deutschland nur ein Territorium, das erobert und ausgebeutet wird. Die Interaktionen zwischen Deutschland und Ukraine und zwischen Deutschen und Ukrainerinnen und Ukrainern sind im 20. Jahrhundert höchst unterschiedlich: Von deutscher Seite die Erzwingung von ukrainischer Zwangsarbeit und Kollaboration sowie die Vernichtung von Ukrainern im Zweiten Weltkrieg einerseits und andererseits staatliche Anerkennung und wachsende Solidarität zwischen beiden Gesellschaften seit 1991.
Martin Schulze Wessel, Yaroslav Hrytsak
[1] Martin Schulze Wessel: Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung. Essay bei „Ukraine verstehen“/Zentrum Liberale Moderne, 27.07.2021, URL: https://libmod.de/putins-bedrohliche-alternative-geschichtsschreibung-schulze-wessel/
[2] Andreas Kappeler: Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern. Osteuropa 7/2021, S. 67–76.